Erfahrungsberichte aus der Praxis

Kinaesthetics Erfahrungsbericht Doris Frei
 
Doris Frei

„Unbeweglichkeitsbedürfnis“

Vor einiger Zeit pflegte ich zwei Wochen lang eine terminale Patientin. Da sie einen Darmverschluss hatte, konnte sie keine Nahrung mehr zu sich nehmen. Dadurch wurde sie jeden Tag kachektischer und schwächer.
Eines Tages sagte sie, dass sie nicht mehr aufstehen möchte, da sie nun sterbe. Weil ich aus Erfahrung wusste, dass es noch nicht soweit war, forderte ich sie auf, in Bewegung zu bleiben. Mir schien es in diesem Moment sehr wichtig, sie voll und ganz von diesem „Unbeweglichkeitsbedürfnis“ abzubringen.
Da sie schon seit Tagen nie mehr aus ihren vier Wänden herausgekommen war, bot ich ihr an, sie ausserhalb ihres Zimmers zu duschen. Ich stellte mir vor, dass es ihr helfen könnte, wenn sie auf dem Spitalgang andere Menschen bei ihren Beschäftigungen sieht und auch wieder einmal Wasser auf ihrem Körper spürt. Sie lehnte ab, und wir besprachen das Thema Bewegung danach nicht mehr miteinander.
Wenn sie auf die Toilette musste, brachte ich immer den Nachtstuhl und nicht den Topf, so dass sie zum Urinlösen jeweils von mir mobilisiert werden musste. Dies und anderes schienen bei ihr auch ohne Worte zu wirken.

Als eines Tages Visite war, erklärte die Patientin der Ärztin, dass sie das Gefühl habe, es sei wichtig, dass sie so viel wie möglich in Bewegung bleibe, damit sie ihren Weg zu Ende gehen könne. Überraschenderweise unterstützte auch die Ärztin sie voll und ganz in dieser Annahme und ich dachte: „Das ist nun Kinaesthetics pur.“
Von diesem Tag an bewegte sich die Frau mit unserer Unterstützung gerne in ihrem Bett oder wollte sich aufsetzen. Dadurch verlor sie nie ihr Körpergefühl, lag nicht wund und hatte kaum Schmerzen. Als ich erfahren habe, dass sie einen Tag nach meinen zwei Wochen Pflege relativ entspannt sterben konnte, war ich sehr zufrieden. Noch nie habe ich erlebt, dass sich ein terminaler Patient bis zum letzten Tag so bewegt hat.

Doris Frei
 

Kinaesthetics Erfahrungsbericht Ginette Scheidegger
 
Ginette Scheidegger

vom Boden aufstehen...

In meiner Kinaesthetics-Etappenaufgabe konzentrierte ich mich auf zwei Klientinnen, die regelmässig vom Boden aufstehen müssen, da sie in der Beschäftigung auf dem Boden arbeiten können. Beide Klientinnen verfügen über Bewegungsressourcen, die sie aber nicht nutzen.
Bis anhin gestaltete sich der Transfer so, dass zwei MitarbeiterInnen die eine Frau an den Händen und Schultern aus einer sitzenden Position hochzogen. Dies war immer ein ziemlicher Kraftakt, weil sie sich nach hinten abstiess und die MitarbeiterInnen das ganze Gewicht trugen. Wir versuchten, mit ihr neue Bewegungsabläufe mithilfe des Weges über den Vierfüsser zu finden, und stellten als Hilfsmittel einen Stuhl zur Verfügung. Ich war sehr überrascht, dass die Klientin sich nach ein paar Versuchen an mögliche Abläufe erinnerte und gewisse Bewegungen selbständig ausführte. Sie war lernfähig, wenn wir ihr nur etwas Neues zumuteten.

Ginette Scheidegger
 

Kinaesthetics Erfahrungsbericht Heidi Waser
 
Heidi Waser

Die Entdeckung der Langsamkeit

Im Rahmen meiner zweiten Kinaesthetics-Etappenaufgabe pflegte ich eine Bewohnerin unter dem Thema „Verlangsamung der Bewegung“ zweimal wöchentlich während vier Wochen.
Die Bewohnerin hat eine ausgeprägte Spastik am ganzen Körper, die Arme sind angezogen, Kopf, Rumpf und Beine in einer Streckspannung. Sie wird über eine parenterale Sonde ernährt und ist kaum in der Lage sich verständlich auszudrücken. Jede Berührung löst noch mehr Spannung in ihrem Körper aus, sodass fast jede Pflege für sie auch Stress bedeutet.
Zuerst informierte ich die Bewohnerin über mein Thema, und sie reagierte mit ganz wachem Blick darauf. Die Angehörigen wurden auch in die Informationen miteinbezogen.
Schon bei der ersten Berührung an der Hand spürte ich die von mir ausgelöste Spannung in ihrem Körper, obwohl ich sie mit viel Achtsamkeit berührte. Ich wartete eine Weile und liess ihr Raum, sich auf diese Weise auszudrücken. Nach einiger Zeit löste sich die Spannung zaghaft und aufgrund meiner kleinen Impulse begann sie mit mir ihre Hand zu bewegen. Die Spannung liess noch mehr nach, bis ich ihren Arm anhob. Ihre Körperspannung stieg wieder und ich liess ihr Zeit. Ich erzählte ihr, was ich wahrnehmen konnte, und eine neue Entspannung mit einer tiefen Ausatmung folgte. Es war für mich, als bliebe die Zeit stehen, und wir folgten gemeinsam einem Weg ohne Worte. Ich konnte gut fühlen, was sich in meinem Körper und was sich wohl in ihrem abspielte. Es fühlte sich an, als bewegten sich unsere Körper gleichzeitig und gemeinsam. Jeder still in sich hineinhörend und sich bewegen lassend. Mal kam der Impuls von der Bewohnerin, mal von mir. Am Schluss unserer Reise konnte sie mit dem Waschlappen ihr Gesicht berühren und sie war in der Lage, kleine, selbständige Bewegungen zum Waschen ihres Gesichtes auszuführen.
Dieses Erlebnis war tief beeindruckend für mich und es schaffte ein spürbares Vertrauen zwischen uns. Am Schluss liess ich ihre Lieblings-CD laufen und auf einmal summte sie die Melodie des Liedes nach! Das wiederum animierte mich mitzusingen und mit dieser gemeinsamen Erfahrung schlossen wir die Pflege ab.
Ich blieb noch eine kurze Zeit still an ihrem Bett stehen, um die friedliche Atmosphäre mit ihr zu geniessen.
Wir haben uns gemeinsam beschenkt, weil wir beide bereit waren, uns in diesen Prozess ohne gewissen Ausgang einzulassen. So schön kann Langsamkeit sein!

Heidi Waser


 
Käthi Holdener

Im Alters- und Pflegeheim pflege ich eine körperlich geschwächte Frau, die klar im Kopf ist und bei Anstrengung mit Brechreiz und Erschöpfung reagiert.
Mein Ziel war es, die Transfers Bett – Rollstuhl unter möglichst grosser Selbständigkeit der Frau und kräfteschonend zu gestalten.
In einem Gespräch erklärte ich Frau R. die Möglichkeit einer Mobilisation mit Hilfe eines Brettes. Ich leitete sie an, sich in sitzender Position durch Ziehen und Drücken der Arme sich über das Brett in den Rollstuhl zu bewegen. In kniender Position vor ihr unterstützte ich sie am Becken. Die Frau konnte meine Anleitungen sehr gut umsetzen und transferierte sich mit deutlich weniger Anstrengung in den Rollstuhl. Sie freute sich sehr über den Erfolg. Wir hatten einen Weg gefunden, wie sie aktiv am Bewegungsprozess teilhaben und ich sie in ihren Bewegungsressourcen unterstützen konnte.

Käthi Holdener